König Ortler

oder „Der zweite Anlauf am Hintergrat“

Von Michael Kreuz

Zur Historie:

Am 4. Jänner 1802 wird Sulden im Innsbrucker Wochenblatt als „Sibirien Tirols, allwo die Bauern mit den Bären aus einer Schüssel essen und die Kinder auf Wölfen daherreiten“, bezeichnet. Auf seiner ersten Reise durch Tirol besuchte der Erzherzog Johann von Österreich den Vinschgau und die Quellen der Etsch. Dabei bewunderte er den Ortler und meinte, dass dieser Berg den höchsten Gipfeln von Savojen und der Schweiz nur wenig nachgeben dürfte. Er schickte den Bergoffizier Dr. Gebhard aus, den Vinschgau bis an Graubündens Grenzen zu erkundigen. Als wichtigste Aufgabe übertrug er ihm die Messung und Besteigung des Ortlers. Am 28. August 1804 kam Dr. Gebhard auf beschwerlichem Saumpfad nach Innersulden und traf dort eine kleine Gemeinde mit kaum 20 Familien, auf Einzelhöfen verstreut, an. Nach vergeblichen Versuchen mit ungeeigneten Leuten erschien am 26. September Josef Pichler - ein Gemsjäger aus St. Leonhard im Passeier Tal, genannt Passeirer Josele - beim Bergoffizier und bot seine guten Dienste an. Fünf Tage darauf, am 1. Oktober 1804, konnte Gebhard an seinen Auftraggeber Erzherzog Johann melden: “Königliche Hoheit! Es ist vollendet, das große Werk! Der Stand der Barometer auf der Ortlerspitze war am 27. September 1804 zwischen 10 und 11 Uhr mittags 194, die korrespondierenden Beobachtung zu Mals zeigte 300. Wie unaussprechlich glücklich fühle ich mich, im Stand zu sein, Eurer königlichen Hoheit diese Nachricht in Unterthänigkeit ertheilen zu können!“.

Der Passeirer hatte den Ortler von Trafoi aus über die „Hinteren Wandeln“ gepackt. Damit war er einen abseitigen, sehr beschwerlichen und gefährlichen Weg gegangen. Erzherzog Johann beschloss, im nächsten Jahr Gebhard wieder nach Sulden zu entsenden, um einen besseren Weg ausfindig zu machen. Die gelang, wieder unter Führung von Josele, im Sommer 1805 über den „Hinteren Grat“. Die Wendung der politischen Verhältnisse brachte noch im Herbst 1805 Krieg. Für die nächsten 20 Jahre verzeichnet die Chronik keinen Ortlerbesuch. Sulden galt weiterhin als „End´ der Welt“, vom Haupt des Ortlers floss der „End´-der-Welt-Ferner“ dem Tal zu. Zur damaligen Zeit waren die Gletscher eine große Gefahr für den kleinen Ort: Im Jahre 1818 schob sich der Suldenferner bis auf gezählte 346 Schritt an den obersten Gampenhof heran! (Auszug aus: Sepp Schnürer – Hohe Routen Ortler, Adamello, Brenta –ISBN 3-405-12208-2 - BLV Verlag 1980)

Vorgeschichte: Der erste Anlauf

Da der Wetterbericht noch bis Samstag Nachmittag stabiles Wetter versprochen hatte, machten sich am Freitag, den 12. Juli 2002 neun Mitglieder der HTG, in Richtung Sulden am Ortler auf den Weg. Noch am Abend erfolgte der Aufstieg zur Hintergrathütte wo uns auch schon die Hüttenwirtin erwartetet. Trotz der späten Stunde bekamen wir noch ein Abendessen. Im Anschluss legten wir uns bald schlafen, sollte doch um 3:30 Uhr schon Wecken sein. So war es dann auch. Und nach dem Frühstück ging es um 4:30 in Richtung Hintergrat los. In der Ferne grollte bereits der Donner. Eine knappe Viertelstunde später kamen wir dann endgültig ins Zweifeln, ob es denn sinnvoll ist weiter zu gehen. Der Wille sagt ja, doch die Vernunft verneinte. Und nachdem uns auch immer mehr Gruppen entgegen kamen, siegte auch bei uns die Vernunft. Gerade rechtzeitig zum Regenbeginn drehten wir auf der Schuttmoräne um und gingen zur Hütte zurück. Dort beschlossen wir auch gleich weiter ins Tal abzusteigen und die Tour ganz abzubrechen. Bei dem Wetter hat das einfach keinen Sinn! Auf dem Rückweg machte dann ein Teil von uns noch an der Martinswand bei Zirl halt und nahmen den dortigen Klettersteig ins Visir. Aber auch dort holte uns bald ein Schauer ein, so dass wir nur die erste Etappe des Klettersteiges erstiegen haben und uns alsbald auf den Rückweg nach Erding machten.

Beim nächsten Treffen der HTG kam dann auch bald der Vorschlag von Rainer Preis, den Ortler doch noch ein zweites Mal in den Kalender zu schreiben. Vielleicht ist das Wetter im Herbst ja etwas stabiler.

Der zweite Anlauf

So kam es, dass wir am Freitag, den 13. September (ob das mal ein gutes Zeichen ist?) uns wieder auf den Weg Richtung Sulden machten. Wir, das war die diesmal durch den Erdinger Stadtmarathon, Arbeit, Hochzeitsfeier etc. auf vier Personen geschrumpfte Gruppe aus Rainer Preis, Bernd Kampitsch, Ulf Müller und ich, Michael Kreuz. Den Weg kannten wir ja inzwischen und so starteten wir vom Parkplatz in Sulden (ca. 1860 m) um 18:30 wieder in Richtung Hintergrathütte (Rifugio del Coston - 2661 m). Da Bernd vor dem Schlafen noch unbedingt gemütlich ein Bierchen trinken wollte, legten wir etwas Tempo zu und waren kurz nach 20 Uhr dort. Auf die Hüttenwirtin war verlass. Auch heute bekamen wir wieder ein sehr gutes Abendessen und nach (einem) Bier bzw. Wein legten wir uns schlafen. Bedingt durch die fortgeschrittene Jahreszeit war erst um 4 Uhr Wecken. Und dieses Mal versprach sowohl der Wetterbericht wie auch der Blick nach oben beste Wetterverhältnisse. Es hatte zwar die letzten Tage ein wenig geschneit. Doch das Meiste sollte bereits wieder getaut sein, war die Auskunft vor Ort.

So ging es um 4:45 Uhr wieder los. Der Weg führt auf einem Moränensteig am Gratausläufer hoch. Zuerst weniger steil bis zum Unteren Knott zieht die Neigung kurz darauf stark. Über ein kleines Firnfeld geht es zum ersten Aufschwung mit Felskontakt. Gerade rechtzeitig geht die Sonne auf und wirft ihr rotes, warmes, fast kitschiges Licht auf den Cevedale, Monte Zebrù und die Nordwand der Königspitze. Man kann noch erkennen, wo bis vor wenigen Jahren die „Schaumrolle“, eine riesige Firnwächte hing. Dies ist Anfang 2000 abgebrochen. Übrigens ein Effekt, der sich ca. alle 50 Jahre wiederholt!. Vor lauter Begeisterung und Fotoshooting macht sich dann auch noch ein Helm selbständig und war auf seiner Talfahrt nicht mehr zu bremsen. „Der musste sowieso wegen eines Steinschlages am Klettersteig ausgemustert werden. Manchmal braucht es halt doch einfach einen Wink von oben, um es auch wirklich zu machen.“, so der trockene Kommentar seines Besitzers. Ohne weitere Verlust ging es weiter in Richtung Oberer Knott (3480m). Ab dort verläuft die Hintergrat-Führe auf dem Grat selbst. Die Bedingungen sind gut. Es liegt zwar ein wenig Schnee, doch der Firn ist fest und griffig. Nur auf den ausgesetzten Stellen am Grat heißt es aufpassen. Bedeutet doch ein Fehltritt, stolpern oder ausrutschen, sich evtl. 50,100 oder gar mehr Meter weiter unten wieder anzutreffen. Vom Oberen Knott geht es zur nächsten markanten Höhe, dem Signalkopf (3723m). Unterwegs treffen wir auf den ersten kleinen Stau. Wir entschließen uns, die zuvor angelegten Steigeisen ein erstes Mal abzunehmen und dafür das mitgebrachte Seil zu verwenden. Nach kurzer Pause geht es weiter auf einem schmalen Felsband. Kurz darauf erstreckt sich ein steiles Firnfeld. Links geht es in eine Rinne und rechts in einem steilen Firnfeld zum End´-der-Welt-Ferner hinab.

 

Ich versuche einfach die Steilheit zu ignorieren. Der Pickel liegt gut in der Hand und der Firn ist griffig. Natürlich habe ich inzwischen meine Steigeisen wieder an den Füßen. So geht es mal über Schnee und Firn, mal über Fels am Grat entlang. Zum Schluss erfolgt noch einmal ein kleiner Feldvorsprung. Bei meinem Versuch technisch sauber zu klettern und die angebrachte Hilfsschlinge nicht zu nutzen teste ich die Sicherungstechnik von Rainer Preis. Allerdings nur einen Meter und mehr als kontrollierten Absprung auf einen unter mir liegend Block. Im zweiten Anlauf, dann doch als „technische Kletterei“, überwinde ich auch diesen Absatz. Und so geht es die letzten Meter in Richtung Gipfel. Dort kommen wir alle glücklich zur Mittagsstunde an. Das Gipfelkreuz des Ortlers ist leider nicht sehr beeindruckend. Zu späterer Stunde auf der Tabaretta-Hütte überlegen wir, ob nicht die Sektion Erding einmal ein Neues stiften sollte. Es ist erstaunlich wenig Betrieb. Wir genießen die Aussicht und den Blick zurück auf den Grat. Es ist noch zu hören von „Hätt mir vorher jemand zoagt oder gsagt wie ausgesetzt des is, dann wäre i da niemois mitganga. Oder vielleicht doch? Ich glaub scho! A Super Tour. Des scheanste wos i bisher ganga bin. Do kummt selbst da Kili ne ro. Kon ma aber eigentlich net vergleicha.“ Und bei einem von uns erwachte sogar die dichterische Ader mit

Die Gipfel sind ganz oben drauf,
drum steige ich die Berge rauf.
Wären die Gipfel unten dran,
bliebe ich auch unten dann.

Das muss wohl an der Höhe liegen, ist doch im Gipfelbuch auch schon zu lesen

„Ich bin hier gewesen, das kann jeder lesen.
Und wer das hat gelesen, ist auch hier gewesen.“

Wir packen unsere Sachen und machen uns auf den Abstieg über den Normalweg. Zuerst über den Gletscher kurz westlich schwenkt der Weg bald nach Norden. Durch irre Eisbrüche geht es auf einem ausgetretenen Pfad bergab. Wir beobachten noch einige Gleitschirmflieger, wie Sie gerade unter uns starten. Auch eine Möglichkeit den Weg ins Tal anzutreten! Unser Blick schwenkt immer wieder zurück auf das nach Nordwest geneigte Eisdach und die von unten noch beeindruckender wirkenden Abbrüche. Der Blick in die über 1000m hohe Nordwand lässt uns rätseln, wie man dort in einer Eistour hinauf kommen soll. Am Ende des Gletschers gilt es an einem Felsgrat einige kleinere Abschwünge zu überwinden. Unser Fixseil, dass wir uns einmal zur Sicherung legen, wird gerne von einer Kärntner Familie mitbenutzt. Am Berg heißt es eben sich gegenseitig zu helfen. Und außerdem bei dem Reepschnürl mit dem die unterwegs waren ... Wir denken lieber nicht weiter, was da bei einem Spaltensturz passieren könnte.
Über weitere Felsstufen, die teilweise sogar mit Ketten versichert sind, geht es in Richtung Julius Payer Hütte hinab. Dort gönnen wir uns dann auch die lange ersehnte Portion Kuchen mit Kaffee bzw. Spezi. Für uns heißt es nochmals knapp 450 m bis zur Tabaretta-Hütte (2555m) absteigen. Es geht zuerst fast horizontal bis ans Nordende des Grates. Von dort dann an der Ostflanke über Schutt wieder zurück. Die Tabaretta-Hütte befinden sich ungefähr genau östlich der Julius-Payer-Hütte, nur eben um einiges tiefer. Mit zwei kleineren Gruppen teilen wir uns das gemütliche Lager unter dem Dach. Nach dem Abendessen beginnt bald zwischen Ulf und mir ein Wettlauf, wer als erster im Hüttenschlafsack liegt (ich gewinne mit wenigen Minuten Vorsprung). Bernd und Rainer lassen sich noch ein Viertel Wein schmecken und kommen später nach. Ich schlafe bald mit den schönen Bilder einer wirklichen Traumtour ein.
Am nächsten Morgen sehen wir zwei junge Burschen, wie sie schon sehr weit oben in der Ortler-Nordwand-Eisflanke bei 54 – 80 Grad Steileis ihre Spur ziehen! Ich würde sagen: Niemals! Wir dagegen frühstücken ganz gemütlich, begleichen unsere Rechnung und setzen den Abstieg ins Tal fort. Es ist etwas bewölkt. Doch die Sonne kommt immer wieder dazwischen durch. Und unser Blick schwenkt immer wieder zurück zum „König von Südtirol“.

Bericht: Michael Kreuz
Fotos: Bernd Kampitsch

Ortler Normalweg